Send Me An Angel

Für Steffi. In ewiger Dankbarkeit.

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Aufnahmedatum: 11.01.2009
Location: Gräflicher Park Bad Driburg
Koordinaten: 51.742244,9.033723
Kamera: Fujifilm FinePix S6500fd

14:00

Sonntag. Bahnfahrt geschafft. Koffer wieder ausgepackt. Rechner hoch­gefahren. Emails gecheckt. Kaffee läuft durch. Erst mal eine Zigarette rauchen. Plötzlich der Schwindel. Kraft läuft aus den Beinen. Hände müssen zur Hilfe. Links und rechts an der Wand. Gerade noch die paar Meter zum nächsten Stuhl geschafft. Wow! Was ist das jetzt? Kreislauf? Versuch aufzustehen. Beine ganz schwach. Mühsam ab ins Bett. Irgendwie. In der Hoffnung, dass nach kurzem Verschnaufen alles wieder okay ist. Etwas dummeln. Es bleibt beim Versuch. Zu viel schießt durch den Kopf. Vor allem die Frage, was gerade mit ihm passiert ist. Blick zum Wecker. Nur eine halbe Stunde vergangen!?

14:30

Er traut sich nicht aufzustehen. Könnte ja sein, dass die Beine immer noch weg sind. – Auf jetzt! – Du bist gut. Ich versuch es ja. Aber es geht nicht. Das rechte Bein fehlt. – Wie das rechte Bein fehlt? – Fühlt sich eigentlich ganz normal an. Tut auch weh, wenn ich reinkneife. Aber es lässt sich halt nicht mehr bewegen. Und lenk deine Aufmerksamkeit bitte mal auf den rechten Arm. Fällt dir was auf? – Ach du Scheiße. Der ist ja auch weg. Völlig ohne Kraft. Kein Muskel rührt sich. Kein Oberarm. Kein Unterarm. Keine Hand. Kein Finger. Zeigefinger nicht. Daumen nicht. Rechts hat sich offenbar alles verabschiedet. Das hab ich noch nicht erlebt. Was ist das? – Schweiß auf der Stirn. – Was tun? Gleich die 112? Oder lieber private Hilfe rufen?

14:45

Glück gehabt. Sie ist am Telefon. Benebelt bittet er um Hilfe. Benebelt? Ist das das richtige Wort? Irgendwie schon. Die Worte in seinem Kopf sind alle noch da. Aber sie fühlen sich irgendwie verschwommen an. Und sie kommen nicht wie gewohnt über die Lippen. Fühlt sich an wie Murmeln im Mund.[1] Sie versteht ihn trotzdem. Lässt alles stehen und liegen. – Aber wie soll sie eigentlich in die Wohnung kommen? Du bist doch der Einzige, der einen Schlüssel zur Wohnung hat. Dann sieh mal zu, wie du ohne rechtes Bein und ohne rechten Arm zum Türöffner kommst. – Raus aus dem Bett. Runter auf den Boden. Auf die intakte linke Seite rollen und Stück für Stück zur Wohnungstür robben. Dort angekommen in den Schneidersitz. So gut es geht. Testen, ob die linke Hand an den Türöffner kommt. Und an die Klinke. Klappt. Super!

15:00

Es klingelt. Er drückt den Türöffner. Öffnet die Tür. Einen kleinen Spalt breit. Spürt den kühlen Luftzug. Sie schiebt die Tür vorsichtig auf. Erst mal zurück ins Bett. Er versucht aufzustehen. Aber es geht nicht. Er versucht es auf allen Vieren. Hey, das geht!  – Wie jetzt? Habe ich mich etwa erholt? Kann das sein? Gibt’s das? – Er hat keine Ahnung. Jedenfalls kann er auf allen Vieren zurück ins Bett kriechen.

15:10

Zurück im Bett. Sie will wissen, was passiert ist. Er spricht jetzt etwas klarer. Nicht mehr so murmelig wie beim Anruf. Sie beratschlagen sich. Er möchte ein Taxi rufen. Mit dem Taxi ins Krankenhaus fahren. Checken lassen, was passiert ist. Vielleicht wirklich nur der Kreislauf. Aber sie besteht darauf, den Notarzt zu rufen. – Den Notarzt? – Ja, den Notarzt. Kann sein, dass du gerade einen Schlaganfall [2] gehabt hast. Ich kenne mich da ein wenig aus. – Einen Schlaganfall? – Ja, einen Schlaganfall. Damit ist nicht zu spaßen. Ich rufe jetzt den Notarzt.

Youtube > Kurzreportage auf ZDF info

15:25

Das Martinshorn ist zu hören. Dann tobt der Bär in seiner Wohnung. Wie viele Leute sind das? Vier? Fünf? Sechs? Sieben? Einer fragt ihn etwas. Zwei hantieren an ihm herum. EKG? Blutdruck [3]? Spritze? Infusion? Er hat keine Ahnung. Alles geht so schnell.  Sie erklären ihm, dass er jetzt abtransportiert wird. Bitten um seine Mithilfe. Rollen ihn auf die ausgefallene Seite. Halten ihn fest. Legen das Tragetuch aufs Bett. Rollen ihn auf das Tuch. Mit vier Leuten heben sie ihn an. Ächzen. 125 auf 185. Das kann sich sehen lassen. Ihm fällt ein, dass er noch die Unterhose anhat, die er gestern zum Schlussball getragen hat. Es ist das Einzige, was er anhat. Unten wartet schon die Fahrtrage. Sie hieven ihn darauf. Sind ganz schön ins Schwitzen gekommen. Geschafft. Sie gurten ihn an. Schieben ihn auf die Straße. Eh er sich versieht, befindet er sich im Rettungswagen. Draußen steht sein Engel. Schaut ihm hinterher.

15:45

Er starrt an die Decke des Rettungswagens. Hört das Martinshorn. Spürt die eilige Fahrt. Gedanken stürmen auf ihn ein: Was ist passiert? Warum ist das passiert? Geht das wieder vorbei? Oder gibt es bleibende Schäden? Was soll dann bloß werden? Fragen über Fragen. Und keine Antworten. Vorerst. Die Bettentürme. Der Rettungs­wagen wird langsamer. Hält an. Die Türen fliegen auf. Er wird herausgezogen. Übergabe an die Notaufnahme. Die Rettungsleute haben ihren Job getan. Verabschieden sich von ihm. Wird er sich an sie erinnern?

16:00

In der Notaufnahme. Ein kleiner weißer, steril gekachelter Raum. Die Decke. Links ein weißer Schrank. Mit vielen Türen und Laden. Viele bunte Kanülen darin. Geschäftiges Treiben um ihn herum. Ein weißer Kittel beugt sich über ihn. Schon wieder ein Engel. Mit kalten Händen. Und Stethoskop um den Hals. Sie sprechen ihn an. Fragen ihn Sachen. Ob er sein Bein fühlen kann. Seinen Arm. Ob er raucht. Wie viele am Tag. Geben ihm was. Spritzen ihm was. Erklären ihm was. Lysieren ihn [4]. Und dann schläft er ein. Ganz langsam. Endlich.

Danke, mein Engel!

Youtube > The Angels are Listening: Snatam Kaur sings Suṉi-ai with Ajeet Kaur at Sat Nam Fest

Links

[1] Wikipedia > Aphasie
[2] Wikipedia > Schlaganfall
[3] Wikipedia > Blutdruck
[4] Wikipedia > Thrombolyse

© J|R 2009/2018