So fern und doch so nah

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Aufnahmedatum: 3. Oktober 2014
Location: Hüggel, Natur- und Geopark TERRA.vita
Koordinaten: 52.222778, 7.988611
Kamera: Sony RX10

Von Hasbergen aus dem TERRA trail 12 folgend den Hüggel erkunden: Das ist der Plan an diesem sonnigen Spätsommertag. Die Kurzansicht des Trails im Internet verspricht neben einem Aussichts­punkt weitere recht interessante Spots, darunter aus erdgeschichtlicher Sicht der Silbersee, aus bergbaulicher Sicht der Augusta­schacht und architektonisch gesehen das Haus Ohrbeck.

Doch dann kommt alles ganz anders als erwartet. Durch sonnendurchflutete Buchenwälder geht es anfangs über die Hüggelverwerfung zum Silbersee. Anders als erwartet kein See im herkömmlichen Sinn, sondern ein Stein­bruch, den die Natur sich im Lauf der Jahrzehnte mit Bäumen und Sträuchern erfolgreich zurückerobert hat. Anschauen lässt sich das auf einem Rundweg um den See. Hinuntergehen in den Stein­bruch ist dagegen laut aufgestellter Hinweistafel nur im Rahmen einer Führung erlaubt, bei der auch der sonst verschlossene Stollen besichtigt werden kann.

Darauf nicht vorbereitet geht es direkt weiter Richtung Augustaschacht und Ohrbeck, voller Erwartung auf die angekündigten bergbaulichen und architektonischen Sehenswürdigkeiten.

Auf dem Weg dorthin, an einem unbeschrankten Bahnübergang, fällt in einiger Entfernung, fast schon etwas versteckt liegend, ein ungewöhnlich aussehendes Objekt auf, an dem seitlich Schilder angebracht zu sein scheinen. Allerdings gibt es kein Hinweisschild zu dem Objekt. Auch keinen Weg dahin. Nicht einmal einen Trampelpfad. Nur eine Grünfläche.

Bei näherer Betrachtung stellt sich heraus, dass es sich hier offenbar um ein Kunstobjekt handelt: Verrostete, senkrecht in den Himmel weisende, ca. 2,50 m hohe Metallstelen mit ebenso geschwungenen wie gezackten Konturen, quaderförmig nebeneinander angeordnet.

Auf drei außen angebrachten Tafeln sind Personennamen und die jeweiligen Herkunftsländer aufgeführt: Belgien, Frankreich, Italien, Polen, Rußland, Ukraine und besonders häufig die Niederlande. Heraus sticht eine kleine Tafel in der Mitte, auf der zu lesen steht: "In den beiden weiteren Hüggel-Lagern Ohrbeck I/II waren auch Zwangs­arbeite­rinnen mit Kindern einquartiert." Es folgen die Namen der verstorbenen Kinder.

Moment mal. Ohrbeck? Haus Ohrbeck? Augustaschacht? Bergbau? Architektur? Und jetzt? Ein Mahnmal? Lager Ohrbeck? Zwangsarbeiter? Was ist das hier?

Die Antwort ist unweit entfernt auf der anderen Seite der Bahngleise zu finden. In der alten Pumpstation für das Bergwerk Augustaschacht Ohrbeck. Dort, wo die Gestapo Osnabrück vor 70 Jahren, Anfang 1944, ein Arbeits­erziehungs­lager errichtet hat. Ein Gebäude, das später von 1945-1970 als Wohnhaus für Ausgebombte, Flücht­linge und Vertriebene genutzt wurde und das seit 1998 als Gedenkstätte für die Opfer des Nationalsozialismus fungiert.

Auf der Infotafel zur Gedenkstätte steht zu lesen:

»In diesem Gelände befand sich von Januar 1944 bis Anfang April 1945 das Arbeitserziehungslager Ohr­beck, auch als AZ.-Lager Ohr­beck bezeichnet. Seine Insassen – hauptsächlich ausländische Zwangs­arbeiter aus den Niederlanden, Russland, Italien, Polen und anderen von Deutschen kontrollierten Ländern – waren Häftlinge der Osnabrücker Gestapo. Sie wurden dort inhaftiert, weil sie versucht hatten, sich der von den deutschen Machthabern verordneten Zwangsarbeit zu entziehen. Die Haftdauer betrug durchschnittlich acht Wochen. Insgesamt saßen wahrscheinlich über 2000 Personen im Lager ein. Zeitweilig wurden im Lager auch Sondergruppen deutscher Gestapo-Häftlinge aus dem Osnabrücker Raum untergebracht, etwa 'jüdisch Versippte' sowie Mitglieder der Glaubensgemeinschaft Zeugen Jehovas und nach dem 20. Juli 1944 als Sozialdemokraten, Gewerkschafter oder Kommunisten bekannte Männer.

In diesem Lager litten Menschen unter Hunger und Krankheiten, es wurde gefoltert und auch getötet. Viele der Häftlinge haben das Lager nicht überlebt.

An das Leiden der Opfer soll an dieser Stelle erinnert werden.«

Ganz verlassen ist das Gelände an diesem Tag. Weit und breit ist keine Menschenseele zu sehen. Die Tür im Eingangsbereich der ehemaligen Pumpstation steht weit offen. Der Pförtnerstuhl ist verlassen. Neugierig geht es hinein in das Gebäude. Auch im Gebäude scheint sich niemand aufzuhalten. Unten befindet sich eine Ausstellung zum Thema Zwangsarbeit mit Infowänden, historischen Fotografien und realen Objekten aus der fernen Vergangenheit.

Eine Eisentreppe führt in den ersten Stock. Was sich dort wohl befindet? Eine weitere Ausstellung? Plötzlich und ganz unvermittelt ein vertrauter Anblick: eine Bibliothek. Bücher über Bücher. Bis unter die Decke. Dazwischen an einem Schreibtisch sitzend eine junge Frau. Ganz allein. Vertieft ins Lesen. Ein kurzer Smalltalk. Mehr auch nicht. Es fühlt sich alles ganz seltsam an. Fast schon kafkaesk. Das sonnige Wetter draußen. Der tiefblaue Himmel. Drinnen die dunklen Ausstellungsräume. Das düstere Thema. Immerhin sind mittlerweile auch ein paar andere Besucher im Gebäude. Darunter auch ein Pärchen in voller Mountainbike-Montur.

Den düsteren Ort nachdenklich verlassend geht es zurück in die Gegenwart. In das Hier und Jetzt. In den sonnigen Hüggelwald. Vorbei an wunderschönen Roten Fingerhüten.

© J|R 8/2016