Klein-Tibet tour-retour

Knapp eine Stunde dauert die Fahrt mit dem Wanderbus 8328 vom Bahnhof im österreichischen Mayrhofen via Bärenbad hoch zur 1.840 müA hoch gelegenen Staumauer des Speichers Ziller­gründl im Ruhegebiet Zillertaler Hauptkamm [1][2][3] des Hochgebirgs-Natur­parks Zillertaler Alpen. Der Aus- und Rundblick von der 186 m hohen Staumauer hin­unter in den Zillergrund, über den Adlerblick hinauf zur Reichenspitze (3.303 m) und dem Reichenspitzkamm auf der nördlichen und dem Magnerkamm auf der südlichen Seite des Speichers: Was für ein eindrucksvoller Tourauftakt!

In der ursprünglichen Planung sollte es von hier aus auf die Hohenaurunde gehen: Aufstieg zur 2.364 müA hoch gelegenen Plauener Hütte, von da dem Hannemannweg folgend über den Oberboden zur Hohenaualm und von da schließlich zurück zum Ausgangspunkt – Tour Nr. 8 in der Broschüre "Wandern im Zillertal" (PDF). Das Wetter jedenfalls hätte dafür an diesem Tag nicht besser sein können. Nur leider spielen die immer noch lädierten Kniegelenke nicht mit.

Vgl. dazu auch die Interaktive Karte der Tiroler Naturparke

Bleibt nur der gelenkschonende Schotterweg am Ufer des Zillergründl entlang zur Hohenaualm und wieder zurück. Gewiss kein Weg für jemanden, der die Einsamkeit der Berge sucht. Selbst jetzt zum Ausklang der Saison, Ende September, sind hier noch viele Wanderer unterwegs. Vermutlich wegen der Hohenaualm, die noch geöffnet hat, wohingegen die Plauener Hütte bereits geschlossen ist. Wider die sonstige Gewohnheit heute dann also: ein wenig Wandern, Einkehr auf einer Almhütte und später den gleichen Weg wieder zurück. Klingt nicht sonderlich spannend. Hoffen wir mal, dass sich die Tour wenigstens in fotografischer Hinsicht lohnt. Die Staumauer und der herrliche Aus- und Rundumblick waren immerhin schon sehr vielversprechend.

Gleich zu Beginn der Wanderung bietet sich ein erstes, eindrucksvolles Motiv: ein knapp 400 Meter langer, nicht asphaltierter und nur spärlich beleuchteter Tunnel, der in erster Linie als Passage für Fußgänger fungiert, der mit einer geschätzten Höhe von vier Metern aber auch von größeren Nutzfahrzeugen befahren werden kann. Nachdem die anderen Fahrgäste aus dem Wanderbus den Tunnel bereits passiert haben und es bis zum Eintreffen des nächsten Busses noch etwas dauert, ist der Tunnel während der eigenen Passage nahezu menschenleer. Ein wenig unheimlich mutet er an. Zumindest aber fanta­sie­anregend. Ist das vielleicht ein Übergang in eine andere Welt? Fantasieland? Wunderland? Heile Welt? Gespannt darauf geht es dem Licht am Ende des Tunnels entgegen.

Den Tunnel hinter sich lassend fallen alsbald die an einem Seil über den Weg gespannten bunten Wimpel auf. Von der Farbgebung und auch von der Farbreihung her – blau, weiß, rot gelb, grün – erinnert das an die Gebetsfahnen, wie sie häufig auf Bildern aus der tibetischen Hochebene zu sehen sind. Was es damit wohl hier an diesem Ort auf sich hat? Kurz darauf taucht die erste von zahlreichen Tafeln auf, die in unregelmäßigen Abständen an Felsblöcken entlang des Weges angebracht sind und auf denen Sinnsprüche buddhisti­scher wie nicht buddhistischer Herkunft zu lesen sind. Erneut stellt sich die Frage, was das hier sein soll. Sollen die Sinntafeln Stationen eines spirituell angehauchten Pilger­wegs markieren? Sollen Wanderer zur inneren Einkehr eingeladen werden? Zur Meditation? Zum Nachdenken? Über sich selbst? Das eigene Leben? Das soziale Miteinander? Ist das hier vielleicht als eine Art Retreat gedacht? Als Ort der Ent­schleu­ni­gung, Ruhe und Entspannung? Dafür sprechen auch die vielen uferseitig aufgestellten Holz­bänke, von denen jede einen eigenen Namen hat. 'S' Bankl nach Klein Tibet' zum Beispiel.

Auf der einen Seite des Weges die Holzbänke, die dazu einladen, den Blick nach außen zu richten und die Natur zu genießen: den türkis­farbenen Speicher, den strahlend blauen Himmel, die Berge, nicht zu vergessen das Rauschen der Wasserfälle. Auf der anderen Seite des Weges die am Fels befestigten Sinntafeln, die dazu verleiten, den Blick nach innen zu richten. So pendelt man ständig zwischen Außenwelt und Innenwelt hin und her. Es sei denn, man macht es wie viele Mitwanderer: im Vorbeigehen einfach mit dem Smartphone ein paar Schnappschüsse schießen: von den Sinntafeln, von den Bänken und von der beeindruckenden Natur. So lässt sich das alles bequem zu einem späteren Zeitpunkt anschauen, vielleicht auch ins Soziale Netzwerk posten und in der virtuellen Welt teilen. Wer sich stattdessen auf das Hier und Jetzt einlässt, der entdeckt auf seinem weiteren Weg zur Hohenaualm mit etwas Glück die Langsamkeit und lässt den Weg zum Ziel werden.

Die Hohenaualm – das eigentliche Ziel des Weges kündigt sich schon von Weitem mit Fahnenmasten an: ein einzelner Fahnenmast mit der Flagge Österreichs und fünf weitere, eng beieinander stehende Fahnenmasten, die wiederum an tibetische Gebetsflaggen erinnern, auch wenn das Rot ein Orange ist und die Farbreihung – orange, grün, gelb, blau, weiß – in diesem Fall nicht der tibetischen Tradition entspricht. Unter den fünf Flaggen steht in großen Holzbuchstaben 'Klein Tibet' geschrieben, so dass dem unvorbereiteten Wanderer zu dämmern beginnt, dass die in seiner Wanderkarte verzeichnete Hohenaualm sich mittlerweile auch unter dem Namen "Klein Tibet" einen Namen gemacht hat und dass die Dinge, die unterwegs aufgetaucht sind – die Gebetsfahnen, die Holzbänke und die Sinntafeln – zur Alm dazu gehören. Wie spätere Recherchen ergeben fühlte sich der heutige Betreiber der Hohenaualm an eigene Erfahrungen in Nepal und Tibet erinnert, als er auf einer Wanderung von der Plauener Hütte aus hinunter auf die Hohenaualm blickte, woraus die Idee entstanden ist, das Areal und die Alm in 'Klein Tibet' zu verwandeln. Selbst eine Gebetsmühle ist installiert. Gäste der Alm bringen offenbar auch gerne Sachen aus Tibet und Nepal mit, um sie der urigen Alm zu überlassen [4] und so dazu beizutragen, die Alm zu einem besonderen Ort werden zu lassen. Dazu tragen auch die frei herumlaufenden Tiere bei, darunter Pferde, Rinder, Hühner und Hunde [5]. Sogar drei ausgewachsene Schweine lassen sich ganz aus der Nähe bestaunen. Was für eine Idylle! Sich von ihr zu trennen und den Rückweg anzutreten, fällt durchaus schwer.

Erfreulicherweise gibt es auf dem Rückweg wieder zahlreiche neue Bildmotive zu entdecken, vor allem auf der Ufer­seite, die auf dem Hinweg noch nicht im Fokus war. Wie klar das Wasser im Speicher ist, lässt sich besonders gut an den Fels­brocken und an den Baum­stümpfen und -ästen unmittelbar am Uferrand erkennen. Was auch immer die Farbe des Speicher­sees verursacht, das Türkis eignet sich hervorragend als Hintergrund für verschiedene Motive am Uferrand wie z.B. die jetzt, Ende September, bereits weitgehend verblühten Schmalblättrigen Weidenröschen, der ebenfalls schon verblühte Gemeine Bärenklau oder auch die Vogelbeeren. Und dann taucht auf einer Scharfgarbe auch noch ein Schmetterling auf, offen­sicht­lich ein Gelbling. Nur welche Art genau? Ein Postillion? Eine Goldene Acht? Oder vielleicht ein Alpen-Gelbling? Keine Ahnung. Jedenfalls ein höchst willkommenes Objekt für eine kleine Makrostudie.

Schneller als gedacht nähert sich das Ende der Tour. Bevor es wieder in den Tunnel geht, schweift der Blick noch einmal zurück über den Speichersee und über die angrenzenden Berge. Bei genauerem Hinsehen ist in nordöstlicher Richtung auch der Weg hoch zur Plauener Hütte wie auch die Hütte selbst zu erkennen. Das nächste Mal vielleicht. Wenn es denn noch ein nächstes Mal geben wird in diesem leider viel zu kurz bemessenen Leben, in dem noch so viele andere Naturschönheiten erkundet werden wollen.

Exif

Quellen

[1] Zum Thema 'Ruhegebiet' vgl. §11 im Tiroler Naturschutzgesetz.
[2] Siehe in diesem Zusammenhang auch die vom Oesterreichischen Alpenverein online bereitgestellte Publikation "Naturinventar Ruhegebiet 'Zillertaler Hauptkamm'" (PDF) von Karl Pangerl aus dem Jahr 1993.
[3] Siehe weiterhin den Beitrag "Pfade der Spannungen: Entstehungsverläufe von Schutzgebieten in den österreichischen Alpen" von Valerie Braun, Gebhard Bendler, Andreas Haller und Kati Heinrich aus dem Jahr 2018.
[4] Beitrag "Tibet ganz nah" von Irene Rapp in der Tiroler Tageszeitung
[5] tirol.at > Almwanderung Hohenau Alm

Bildberichte

Videoberichte