Durchs Karwendel

Ein Reise- und Fotobericht von einer Mehrtageswanderung im September 2014 vom Achensee durchs Karwendel nach Scharnitz in drei Kapiteln.

1 – Vom Achensee zum Großen Ahornboden
2 – Vom Großen Ahornboden zum Karwendelhaus
3 – Vom Karwendelhaus nach Scharnitz (in Vorbereitung)

Wenig fotogene Wetterverhältnisse am zweiten Tag
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Blick von der Binsalm Richtung Gamsjoch
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Vom Großen Ahornboden zum Karwendelhaus.
Die Wanderroute der zweiten Etappe

Das Almdorf Eng
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Youtube – Almdorf Eng
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Youtube – Alpenauszeit. Raus für einen Sommer
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Rückblick Richtung Eng
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Blick zum Gramaijoch
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Blick vom Hohljoch Richtung Grubenkarspitze
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Blick vom Hohljoch zur Falkenhütte
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Blick von der Falkenhütte zum Hohljoch
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Blick von der Falkenhütte ins Filztal
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Sauiiswald, Sauissköpfl und Ladizer Reißen
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Steinmännchen im Trockenbach
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Ahornbäume im Kleinen Ahornboden
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Das Filztal im Schatten der Berge
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Blick von der Hochalm Richtung Falkenhütte
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Das Jochkreuz am Hochalmsattel
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Das Karwendelhaus
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Einzelzimmer auf der Hütte
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19:46 Uhr in der Handyzone
vor dem Karwendelhaus

2 – Vom Großen Ahornboden
zum Karwendelhaus

Nach der Mammutwanderung am Vortag einen Regenera­tions­tag einlegen, den Tag über ganz in Ruhe den Großen Ahornboden erkunden und mit der Kamera bei perfekten Lichtverhältnissen die in herbstlichen Farben strahlenden Ahornbäume vor einem tiefblauen Himmel einfangen. So wie es zuvor unzähligen anderen Fotografen gelungen ist.

Soweit der Plan. Und die Wirklichkeit? Tief in der Nacht zieht ein Unwetter auf. Es donnert, blitzt und regnet welt­unter­gangsgleich. Am nächsten Morgen hat es sich stark abgekühlt. Rißtal, Engalm und die umliegenden Berge sind nebelgetränkt und wolkenverhangen. Statt Postkarten­wetter Suppen­küchen­wetter. Den ganzen Tag. Keine Chance auf die geplante Fotosafari durch den Ahornboden.

Stattdessen nun eine gemächliche Wande­rung dem Adler­weg folgend hoch zur Binsalm. Soweit es das Wetter zulässt. Und die vom Vortag noch arg strapa­zier­ten Muskeln. Wider Erwarten geht das Laufen aber so gut, dass sogar eine Weiterwanderung zur Lamsen­joch­hütte realis­tisch ist. Nach und nach ziehen sich die eindrucksvollen Wände der Lamsen­spitze allerdings immer mehr mit Wolken zu und es dauert nicht lange, bis es zu regnen anfängt. Leicht zwar nur. Für einen Sturz im zunehmend alpiner werdenden Gelände reicht es aber.

Lieber also den Rückweg antreten, sich unten im Tal noch ein heißes Bad gönnen und eine weiteres Mal die für den nächsten Tag geplante Wanderroute studieren, die von der Eng aus über die Falkenhütte und den Kleinen Ahornboden weiter zum Karwendelhaus gehen soll. Und das Beste: Die Wetter­prognose für den nächsten Tag hört sich viel­versprechend an. Den ganzen Tag über blauer Himmel, Sonne pur und ideale Temperaturen zum Wandern.

Als er am nächsten Morgen aufwacht und aus dem Fenster schaut, ist tatsächlich kein Wölkchen am Himmel zu sehen. Frühstück im sonnen- und menschenüberfluteten Früh­stücks­raum, alles zusammenpacken, auschecken, Ruck­sack und Equipment anlegen und los geht es. Aber vorher erst einmal die frische Morgenluft einatmen. Ganz tief. Was für ein Gefühl. Herrlich!

Almdorf Eng

Dem Adlerweg folgend geht es um kurz nach 09:00 Uhr los, zunächst vorbei an ein paar alten, moosbewachsenen Ahorn­bäumen weiter talaufwärts in das idylisch gelegene Almdorf Eng, das so früh am Morgen noch frei von Touristenscharen ist.

Ein paar junge, einheimische Bauern sind bei der Arbeit zu sehen. Was für ein beneidenswerter Arbeitsplatz hier in dieser Alpenidylle. Wäre das eigentlich nichts für dich? Aussteigen aus dem lauten und überdrüssigen Stadtleben und einstei­gen in die Almwirtschaft? Als Senner Kühe hüten und Milch zu Käse und Butter verarbeiten? Vielleicht auch erst einmal nur für einen Sommer? Testweise? Geht das überhaupt? Für jemanden, der vor hunderttausend Jahren in seiner Jugend das letzte Mal eine Kuh gemolken hat? Der an Straßenlärm und heulende Sirenen gewöhnt ist. Nicht an muhende Kühe und deren Glockengeläut.

Ich könnte die Jungs ja einfach fragen. Und mich erkundi­gen, wo und wovon sie eigentlich leben, wenn der Alm­betrieb von Anfang November bis Ende April über die Winter­monate eingestellt und die Engalm nicht bewirt­schaftet ist.

Kurze Zeit später gibt es ein Wiedersehen mit zwei Weggefährten vom Vortag, die zufällig in dieselbe Richtung unterwegs sind. Die beiden berichten, dass sie schon seit einer Ewigkeit zum Wandern in die Eng kommen. Sich schon fast als Einheimische fühlen. Sie berichten von dem über die Jahre immer weiter angestie­genen touristischen Massenandrang. Vor allem in der Hoch­saison. Von den Heerscharen, die tagaus tagein in die Eng strömen. Mit Mountainbikes, Motorrädern, Autos, Vans und Bussen.

Wen wundern angesichts der Durchkommerzialisierung der Berge Aktionen wie das alljährliche "Feuer in den Alpen"? Oder die Initiative "Jetz werds Eng" von dem Natur­schützer Harald Danzer? Die Erfahrungsberichte bringen jedenfalls schnell wieder zurück auf den Boden der Tatsachen und erinnern zugleich an Oppas Spruch aus Frank Goosens "Radio Heimat – Geschichten von zuhause": "Ach, woanders is auch scheiße!"

Hoch zum Hohljoch

Das zu glauben, fällt auf dem Weg hoch zum Hohljoch bei strahlendem Wetter und in der traumhaften Kulisse der Hinter­autal-Vomper-Kette schwer, zumal an diesem Tag erfreu­licherweise nur eine überschaubare Zahl an Wande­rern unterwegs ist. Die morgendliche Gipfelsilhouette aus Spritzkar-, Platten-, Grubenkar- und Dreizinkenspitze trägt das ihre dazu bei, die unschönen Gedanken wegzuwischen und sich stattdessen angenehmeren Dingen zuzuwenden: der Suche nach interessanten Fotomotiven und -perspek­tiven. Eine Passion, die einer der beiden Weggefährten eben­falls teilt.

Beim Weiterwandern zwischen den Motiven wird darüber gefachsimpelt, wie die geschossenen Fotos später ausge­wertet und weiterverarbeitet werden. Und es geht um die eher grundsätzliche Frage, warum wir überhaupt foto­grafieren. Um ein Motiv im Hier und Jetzt durch die Kamera noch intensiver wahrzunehmen als ohne? Oder um sich in der Zukunft an besondere Augen­blicke in der Vergangenheit erinnern zu können? An besondere Orte, Menschen und Gesichter? An uns selbst? Um etwas gegen den schnöden Alltag in der Hand zu haben? Oder an der Wand? Oder auf dem Schreibtisch? Als Hintergrundbild auf dem Computer oder Smartphone? Oder um die Bilder später stolz anderen zu präsentieren? Auf diese Weise unserem Bedürfnis nach Signi­fikanz nachzukommen? Oder um mit unseren Fotos kleine Apfelbäumchen zu pflanzen und damit die Welt ein kleines bisschen besser zu machen?

Vielleicht geht es ja auch einfach nur darum, aus dem Hobby einen Beruf zu machen und mit dem Fotografieren irgendwann einmal ganz schnöde Geld zu verdienen? Da trifft es sich, just bei diesen Fachsimpeleien von einem anderen Wanderer auf die eigene Kamera angesprochen zu werden.

"Die Sony RX-10 – eine hervorragende Bridgekamera! Noch besser soll aktuell ja die FZ1000 von Panasonic sein. Schon unglaublich, der technische Fortschritt in den letzten Jahren. Was die Kompakten und speziell die Bridgekameras mittler­weile alles können! Und das zu einem relativ günstigen Preis im Vergleich zu den Systemkameras. Hier in den Bergen sehe ich viele Menschen, die eine von diesen Kameras bei sich haben. Wenn ich die Menschen darauf anspreche, stelle ich aber häufig fest, dass die meisten nur mit der Kameraautomatik arbeiten und gar keine Vorstel­lungen von den immensen manuellen Möglichkeiten ihrer Kamera haben. Die Wenigsten wissen z. B., was sich mit dem manuellen Weißabgleich an­stellen lässt. Genau darum geht es in der Fotoschule, für die ich arbeite. Hier ist meine Karte. Wenn Sie mal Interesse haben ..."

Unglaublich! War dieser Mensch eigentlich als Urlauber unterwegs oder im Auftrag der Fotoschule oder sowohl als auch? Wie auch immer. Noch unglaublicher war, dass der Aufstieg zum Hohljoch ganze drei Stunden gedauert hat. Drei Stunden, die eigentlich mit gut einer Stunde kalkuliert waren. Das war dann jetzt wohl ein Flow par excellance: jegliches Zeitgefühl verloren. Beim Fotografieren und vor allem beim Fachsimpeln darüber. Zudem sind die drei Stunden wie im Fluge vergangen. Vom Hohljoch aus den Weg zurück­blickend stellt sich das Gefühl ein, mehr mit Gedanken im Kopf als in einer grandiosen Landschaft unter­wegs gewesen zu sein. Also zurück zum Ausgangs­punkt, um Landschaft und Natur mit der ihr gebührenden vollen Achtsamkeit aufzu­nehmen? Die zeitliche Planung lässt das nicht zu. Kann das Ziel der heutigen Etappe, das Karwendel­haus, überhaupt noch erreicht werden?

Die Weggefährten, selbst weiter unterwegs zum Gamsjoch, empfehlen eindringlich, nicht bis zum Karwendelhaus zu gehen, sondern nur bis zur Falkenhütte. Auf diese Weise könne die Landschaft in aller Seelenruhe und ganz ohne den Stress genossen werden, unterwegs von der Dunkelheit über­rascht zu werden.

Laliderer Wände und Falkenhütte

Die Entscheidung soll auf der Falkenhütte fallen. Dankbar für den gemeinsamen Aufstieg zum Hohljoch und den anregenden Austausch winkt er seinen Weggefährten zum Abschied noch einmal zu und steigt zügigen Schrittes hinab auf den Weg, der im Schatten der 700 m hohen Nord­abstürze der Laliderer Wände weiter zur Falkenhütte führt. Nach der direkten Sonneneinstrahlung des Aufstiegs ist die Abkühlung anfangs höchst wohltuend. Recht schnell wird es jedoch arg schattig und er freut sich schon darauf, wieder in die wärmende Sonne hinaustreten zu können. Etwas später, gegen 14:00 Uhr, ist schließlich die Falkenhütte erreicht. Auf einer Höhe von 1.848 m liegt die Hütte in gleißender Sonne wie auf einem Präsentierteller.

Damit wäre er nun also gekommen: der Augenblick der Entscheidung. Alternative 1: Dem Rat seiner Weg­gefährten folgen und die Nacht auf der Falkenhütte verbringen? Im "Hütten­trekking Ostalpen" wird bei einer Übernachtung auf der Falkenhütte empfohlen, frühmorgens den Sonnen­auf­gang vom 45 Minuten entfernten Mahnkopf aus zu genie­ßen, "dem Aussichtsgipfel auf die Laliderer Wände" [1, S. 50]. Das klingt ver­lockend. Aber es ist jetzt gerade erst 14:00 Uhr. Also noch massig Zeit bis zur Nacht. Den Nachmittag über noch etwas von der Falkenhütte aus erwandern? Der Karte nach würde sich dafür auch nur der 2.094  hoch gelegene Mahnkopf anbieten.

Was ist mit Alternative 2: Weiterwandern über den Kleinen Ahornboden durch das Filztal zum Karwendelhaus? Laut Hütten­führer braucht es dafür gut 3 Stunden. Kalku­lieren wir 3,5 Stunden für das eigene Wander­tempo plus eine weitere Stunde für Rasten und Foto­grafieren, liegen wir bei 4,5 Stunden bis zum Kar­wen­del­haus. Ab jetzt gerechnet wäre das Ziel dem­nach allerspätestens gegen 18:30 Uhr erreicht. Wann genau geht die Sonne hier heute überhaupt unter? Um 19:10 Uhr? Das reicht. Damit ist die Entscheidung gefallen. Zumal im Karwendelhaus bereits eine Übernach­tung in einem Mehrbettzimmer gebucht ist.

Durch den Sauisswald

Nach dem Auffüllen der Kameltasche geht es also weiter, jetzt erst einmal wieder 450 m abwärts über die Ladizalm durch den Sauisswald zum 1.400 m tief gelegenen Kleinen Ahornboden. Im Sauisswald fällt ihm irgendwann auf, dass es in beide Richtungen nahezu keine Mitwanderer gibt. Dass er doch tatsächlich ganz allein mit sich und der Natur ist. Stehenbleiben! Augen schließen! Horchen! Unglaublich! Absolut keine Zivilisationsgeräusche! Nichts! Nur die Natur! Wie lange ist das her, dass er das erlebt hat? Er kann sich nicht erinnern. Ist das schön!

Was für ein seltsames Gefühl, als in einer der nächsten Biegungen ein paar Wanderer auftauchen. Grüß Gott! Servus! Griaß di! Warum grüßen wir uns hier eigentlich? In der Stadt würden wir das sicher nicht tun? Dort gehen wir grußlos aneinander vorbei. Hier hingegen gebietet es uns die Höflichkeit? Oder handelt es sich um den Versuch, durch das Grüßen signalisiert zu bekommen, dass der Fremde friedfertig ist und dass keine Gefahr von ihm ausgeht? Gibt es eigentlich so etwas wie eine Psychologie des Grüßens?

Wieder allein stellt er erstaunt fest, dass ihm bislang kein einziges Fotomotiv hier im Sauisswald ins Auge gesprungen ist. Liegt das daran, dass er den Motiven keine Chance dazu gegeben hat? Weil er sich wieder mal in seinen Gedanken verloren hat. Oder gab es tatsächlich keine spannenden Motive? Er nimmt sich vor, ab jetzt aufzupassen und genauer hinzuschauen. Aber es bleibt dabei. Das nächste Motiv erwartet ihn erst wieder am Ausgang des Waldes: der Blick zurück über den Sauisswald zum Sauissköpfl und den dahinter liegenden Ladizer Reißen. Mit Zivilisationssignatur am blauen Himmel.

Im Kleinen Ahornboden

Vom Sauisswald kommend geht es über das breite Geröllfeld eines Trockenbachs, über den in Zeiten der Schneeschmelze offensichtlich reich­lich Schmelz­wasser Richtung Johannesbach fließt. Danach ist das nächste Zwischenziel der Etappe erreicht: der Kleine Ahornboden.

Nahezu menschenleer ist es hier. Warum eigentlich? Weil es hier nichts weiter zu sehen gibt? Nur die Ahornbäume. Und das Denkmal zu Ehren des Bergsteigers und Kalkalpen-Erschließers Hermann von Barth, der die Gipfel der Karwendelkette um 1870 herum als Allein­gänger für sich eroberte. Oder liegt es daran, weil diese Insel der Ruhe sich motorisiert nur mit einer Sondergenehmigung erreichen lässt? Zu Fuß und mit dem Bike nur nach einer längeren Weg­strecke. Egal, ob von der Falken­hütte aus, vom Karwendel­haus aus oder durchs Johannestal von Hinterriß aus?

Erst einmal wird jetzt eine Rast eingelegt, der zunehmend schwerer gewordene Rucksack ablegt, die Energiespeicher aufgetankt und die Abgeschiedenheit des Ortes genossen. Ob dieses Gefühl der Stille wohl konserviert werden kann? Um es in stressbehafteten Situationen gezielt abrufen zu können, etwa wenn man mal wieder als Sardine in der Büchse unter­wegs ist und von rücksichtslosen Smartphone-Junkies genervt wird. Hilft dagegen dann vielleicht ein Kleiner-Ahorn­boden-Anker? Tief einatmen und sich einfach nur an die Abgeschie­denheit und himmlische Ruhe des Kleinen Ahorn­bodens erin­nern, um nicht mehr genervt zu sein? Das erfordert sicher ganz viel Übung. Tut's das Smartphone hier eigentlich?

Wischen wir die Gedanken beiseite und richten unsere Auf­merksamkeit doch lieber auf die Ahornbäume. Auch hier war der ursprüngliche Plan der, sich ausreichend Zeit zu nehmen, um die Bäume genauer zu studieren und zu fotografieren. So wie das zuvor schon anderen Fotografen eindrucksvoll gelungen ist:

Beim Aufstehen machen sich allerdings schlagartig die vergan­genen 6,5 Stunden Auf und Ab bemerkbar. Der Rücken hat nicht wirklich Lust, den Rucksack weiter zu tragen. Und die Beine signalisieren, dass sie nicht mehr allzu lange strapaziert werden möchten. Dementsprechend schwer fällt es, sich zur genaueren Erkundung des Areals und zu einem ausgiebigen Fotoshooting zu motivieren. Die Auswahl wird deshalb auf besonders pittoresk erscheinende Motive beschränkt, die sich in unmittelbarer Nähe des Wanderweges befinden. Wie schon im Großen Ahornboden sind die Blätter der Ahornbäume auch hier in der vorletzten Septemberwoche noch eher spät­sommer­lich grün als herbstlich gefärbt. Von Ausnahmen abge­sehen. Goldener wird es wohl tatsächlich erst im Oktober:

Zum Hochalmsattel

Am anderen Ende des Kleinen Ahornbodens angelangt, naht der letzte Teil der Etappe: Durch das Untere Filztal weiter dem Adlerweg folgend 400 m hoch zum Hochalmsattel (1.803 m). Gleich danach soll laut Karte auch schon das Karwendelhaus (1.771 m) liegen. Verteilt auf eine Strecke von ca. 3,0 km sollte der Aufstieg nicht allzu schwierig werden, selbst in der gewählten alpinen Variante.

Während des Aufstiegs verschwindet die Sonne langsam hinter der Bergkette und taucht das Filztal nach und nach in Schatten. Wie das wohl ist: Hier auf unbekanntem Terrain zu wandern, wenn es dunkel geworden ist? Ganz allein. Bestimmt nicht jedermanns Sache. Bestimmt auch nicht sonderlich ratsam. Was man wohl am besten macht, wenn man von der Dunkelheit überrascht wird? Wenn der Himmel klar ist und der Mond scheint, lässt es sich je nach Erkennbarkeit und Beschaffenheit des Weges vermutlich noch gut weitergehen. Aber was ist, wenn es richtig dunkel ist und man nicht einmal eine Taschen­lampe bei sich hat. Dann ist es vermutlich ratsam, sich rechtzeitig einen geeigneten Unterschlupf für die Nacht zu suchen. Und was ist mit einer Übernachtung in der freien Natur? Zwischen Fichten, Kiefern und Gesteinsbrocken? Ganz ohne Zelt und Schlafsack? Wie kann man sich in so einem Fall vor Kälte und Nässe schützen? Wie kalt wird es nachts um diese Jahreszeit überhaupt?

Das Nachdenken über diese Fragen hört abrupt auf, als menschliche Stimmen zu vernehmen sind. Zwei Wanderer, die in dieselbe Richtung unterwegs sind und die sehr schnell aufholen. Einer der beiden Wanderer fragt, ob er ein Messer ausleihen kann und zeigt dabei auf seinen rechten Wander­schuh, bei dem sich die Schuhsohle von vorne bis hinter den Fußballen abgelöst hat. Wie kann man damit überhaupt laufen? Dankbar wird das Messer entgegengenommen, kurzer­hand ein Riemen vom Rucksack gekappt und damit die Sohle am Schuh fixiert in der Hoffnung, dass die Sohle im Karwendel­haus wieder geklebt werden kann. Beim Wiedersehen später dort bedanken sich die beiden Wanderer ein weiteres Mal für das Messer. Es sei ja nicht selbstverständlich, wildfremden Menschen in einer so einsamen Gegend einfach das eigene Messer auszu­händigen. War das Urvertrauen? Menschen­kennt­nis? Oder nur Leichtsinn? Wie dem auch sei. Nichts passiert.

Fast angekommen oben am Hochalmsattel  geht der Blick noch ein letztes Mal zurück ins Filztal und weiter die Karwendel­kette entlang. Was für eine wunderschöne Strecke. Natur pur. Und als wollte sie noch eins draufsetzen, schickt sie aus dem Filztal noch ein Geräusch hoch, das erst nach etwas Überlegen zugeordnet werden kann. Ein Hirsch? Ein röhrender Hirsch? Kann das sein?

Quelle: Jugrü (Eigenes Werk) [CC BY-SA 3.0]
via Wikimedia Commons

Wie sich später bei Gesprächen im Karwendelhaus herausstellt, sind hier wie im Naturpark Karwendel insgesamt freilaufende Hirsche keine Seltenheit. Ihre Brunftzeit geht von Mitte September bis Mitte Oktober. Das Röhren der Hirsche noch in den Ohren geht es am Joch­kreuz vorbei weiter, voller Freude auf das Ende der heutigen Tour und voller Spannung auf das Hüttenleben und das Nacht­lager, das auf ihn wartet.

Im Karwendelhaus

Kurz nach 17:00 Uhr ist das Karwendelhaus erreicht und der allererste Hüttenaufenthalt seines Lebens kann beginnen.

Los geht es am Check-in, wo er überaus freundlich und hilfs­bereit empfangen wird. Da er beim ersten Mal nicht gleich das Matrat­zen­lager ausprobieren wollte, hat er recht­zeitig vorab eine Übernach­tung in einem Mehrbett­zimmer gebucht.

Das zugewiesene Zimmer liegt im zweiten Obergeschoss und ist, wie sich herausstellt, abgeschlossen. Vermutlich sind die anderen Zimmergenossen entweder noch nicht da oder schon in der Gaststube oder draußen auf der Terasse. Er schließt die Tür auf, tritt ein und stellt zu seiner großen Überraschung fest, dass es sich gar nicht um ein Mehrbettzimmer, sondern um ein Einzel­zimmer handelt. Ein Einzelzimmer! Damit hat er über­haupt nicht gerechnet.

Erst einmal abrüsten und sich nach den Anstrengungen des heutigen Tages im Gemeinschaftswaschraum wieder ein wenig frisch machen. Anschließend geht es mit einem eiskalten Weizen auf die Außenterasse, um dort zusammen mit anderen Hüttenbesuchern die abendliche Sonne zu genießen bis es Zeit wird für das Abendessen in der Gaststube.

Voll ist es in der Stube. Mit Bergsteigern, Bergwanderern und Mountainbikern. Viele sind zu zweit da oder in Gruppen. Mehrere Gerichte stehen zur Auswahl. Die eigene Wahl fällt auf ein deftiges Nudelgericht. Nach dem Abendessen kommt der Hüttenwirt von Tisch zu Tisch, verkündet die aktuellen Wetter­aussichten und gibt seinen Gästen individuelle Tipps für die am nächsten Tag geplanten Unternehmungen.

Der Wirt erzählt auch von den Hirschen hier in der Gegend und weist auf die Hinweisschilder hin, die dazu auffordern, bestimmte Wege zu bestimmten Tageszeiten aus Rücksicht­nahme auf die Tiere zu meiden. Davon betroffen ist auch der eigene, für morgen geplante Weiterweg über den Gjaid­steig zur Hochlandhütte. In seinem Hüttenführer heißt es dazu:

"Bis zum Karwendelhaus war dies eine der leichtesten Touren in diesem Buch. (...) Anders der Weiterweg über die Hochland­hütte nach Mittenwald: Willkommen im Testgebiet für die schweren Touren in diesem Buch!" [1, S. 52].

Genau das war der Plan: an den eigenen Grenzen zu arbeiten und wie in den Jahren zuvor auch mal schwerere Passagen anzugehen und zu testen. Der Wirt weist allerdings darauf hin, dass es nach dem Unwetter und dem Temperatursturz vorgestern auf der Nordseite des Steigs geschneit hat. Trotz des sonnigen und warmen Tages heute könne man davon ausgehen, dass der Schnee noch nicht weggeschmolzen ist. Genauere Angaben lägen dazu aktuell noch nicht vor. Die Route könne deshalb ab der Nordseite ein wenig riskant sein und sollte nur von erfahrenen Bergwanderern gegangen werden.

Das gibt ihm an diesem Abend ein wenig zu denken. Genauso wie die für ihn neue Information einer Tischnachbarin, dass es mittlerweile wieder jedes Jahr den Karwendelmarsch gibt, der von Scharnitz aus durchs Karwendel nach Pertisau führt und der u. a. auch als Laufvariante angeboten wird. Die besten Läufer benötigen für die gesamte Strecke um die 4,5 Stunden. Wohlgemerkt für die gesamte Strecke. Er selbst hat nur für die Strecke von der Eng bis zum Karwendelhaus 8 Stunden benötigt, wenn auch mit voll gepacktem Tourenrucksack. Sei es drum. Es gibt halt immer jemanden, der besser ist als man selbst.

Nach und nach leert sich die Gaststube. Zeit, schlafen zu gehen. Der Hüttenordnung entsprechend kehrt die Nacht­ruhe auch tatsächlich gegen 22:00 Uhr ein.

Geschrieben von Jürgen Reckfort für
seherereignisse.de

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Weiter zur Etappe 3:
Vom Karwendelhaus nach Scharnitz (in Arbeit)

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Quellen

1 Gantzhorn, R. / Seeger, A.: Hüttentrekking 1, Ostalpen,
Rother Selection, 5. Aufl. 2014

© Bergverlag Rother
Mit freundlicher Genehmigung